Ob die Kriterien von Art. 6 Abs. 1 (siehe Kasten) der Richtlinie erfüllt sind, müsse das vorlegende Gericht – in dem Fall das Verwaltungsgericht der Steiermark - prüfen. Das Unternehmen Sappi Austria Produktions betreibt am Standort Gratkorn in Österreich eine Großindustrieanlage zur Herstellung von Papier und Zellstoff, so der EuGH zum Sachverhalt. Dort befindet sich auch eine Kläranlage, die Sappi gemeinsam mit dem Wasserverband Region Gratkorn-Gratwein betreibt und in der Abwasser aus der Papier- und Zellstoffproduktion sowie kommunales Abwasser behandelt werden.
Bei der nach dem nationalen Recht vorgeschriebenen Behandlung des Abwassers fällt Klärschlamm an, der also sowohl aus Stoffen besteht, die aus betrieblichem Abwasser stammen, als auch aus solchen, die aus kommunalem Abwasser stammen, erläutert der EuGH. Der in der Kläranlage anfallende Klärschlamm werde anschließend in einem Kessel von Sappi oder in einer vom Wasserverband betriebenen Reststoffverbrennungsanlage verbrannt und der erzeugte Dampf der Energiegewinnung für die Papier- und Zellstofferzeugung zugeführt.
Der Landeshauptmann der Steiermark stellte nach einem umfangreichen Ermittlungsverfahren fest, dass die Änderungen am Kessel von Sappi und an der ebenfalls in Gratkorn gelegenen Reststoffverbrennungsanlage im Eigentum des Wasserverbands der Genehmigungspflicht unterlägen, heißt es in dem Urteil weiter. Er führte aus, dass der zur Verbrennung gelangende Klärschlamm zwar zum überwiegenden Teil – zu rund 97 Prozent - aus einem Produktionsprozess der Papiererzeugung stamme und für diesen Anteil die Eigenschaft als „Nebenprodukt“ im Sinne des österreichischen Abfallwirtschaftsgesetzes (AWG) angenommen werden könne. Dies treffe aber auf jenen Anteil des Klärschlamms, der aus der kommunalen Abwasserreinigung entstehe, nicht zu. Dieser Klärschlamm bleibe Abfall.
Landeshauptmann: Gesamter Klärschlamm als Abfall einzustufen
Da es aber nach der Rechtsprechung des Österreichischen Verwaltungsgerichtshofs keine Bagatellgrenze für die Einstufung eines Stoffes als „Abfall“ gebe, sei davon auszugehen, dass der gesamte in den Industrieanlagen von Sappi und des Wasserverbands verbrannte Klärschlamm als Abfall einzustufen sei, so der Landeshauptmann. Sappi und der Wasserverband erhoben gegen den entsprechenden Bescheid Beschwerde beim Landesverwaltungsgericht Steiermark.
Im Dezember 2016 gab das Landesverwaltungsgericht der Beschwerde von Sappi und dem Wasserverband statt. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof hob diese Entscheidung im Februar 2019 auf und verwies die Sache an das Landesverwaltungsgericht zurück. Das wollte nun wissen, ob der Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs zu folgen ist, wonach Klärschlamm, der bei der gemeinsamen Reinigung von betrieblichem und kommunalem Abwasser entstehe, „Abfall“ im Sinne des Unionsrechts sei.
Landesverwaltungsgericht stellt Frage nach Abfalleigenschaft
Das Gericht wies aber darauf hin, dass die Zuführung des Klärschlamms mit Hilfe eines geschlossenen automatisierten Systems innerhalb des Betriebs stattfinde, die Verwendung des Klärschlamms lückenlos erfolge und von diesem Vorgang keine Gefahren für die Umwelt und menschliche Gesundheit ausgingen. Zusätzlich verfolge diese Vorgehensweise noch das Ziel der Abfallvermeidung sowie der Substituierung fossiler Rohstoffe.
Unter diesen Umständen hat das Landesverwaltungsgericht Steiermark dem EuGH zufolge beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Europäischen Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. So sei nach Auffassung des Landesverwaltungsgerichts zu klären, ob Klärschlamm unter Berücksichtigung der Regelung der Abfallrahmenrichtlinie 2008/98 in Verbindung mit der Klärschlammrichtlinie als Abfall anzusehen sei.
„Abfall“ ist jeder Stoff, dessen sich sein Besitzer entledigt
Der EuGH weist in seinem Urteil darauf hin, dass nach der Abfallrahmenrichtlinie unter dem Begriff „Abfall“ jeder Stoff oder Gegenstand zu verstehen ist, dessen sich sein Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss. Damit sei der Umstand, dass dem Abwasser aus der Papier- und Zellstoffherstellung in der Kläranlage ein nur geringer Teil kommunalen Abwassers beigemengt wird, für die Beurteilung der Frage, ob der bei der gemeinsamen Behandlung dieser Abwässer anfallende Klärschlamm „Abfall“ ist, nicht relevant.
Nur durch diese Auslegung kann dem EuGH zufolge sichergestellt werden, dass die Ziele der Abfallrahmenrichtlinie erreicht werden, die nachteiligen Auswirkungen der Erzeugung und Bewirtschaftung von Abfällen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt möglichst gering zu halten. Im konkreten Fall ließen sich zwar das Abwasser aus der Papier und Zellstoffherstellung nicht vom häuslichen oder kommunalen Abwasser trennen und nur dann verwerten oder beseitigen, wenn es auch der nach dem nationalen Recht vorgeschriebenen notwendigen Behandlung unterzogen werde. Es sei aber unstrittig, dass häusliches oder kommunales Abwasser als ein Stoff anzusehen sei, dessen sich sein Besitzer entledigt habe.
Demzufolge ist das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Abwasser - vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen - als ein Stoff anzusehen, dessen sich sein Besitzer entledigen will, so dass er als „Abfall“ im Sinne der Abfallrahmenrichtlinie einzustufen ist, heißt es in dem Urteil.
Klärschlamm ist ein Rückstand aus der Abwasserbehandlung
Wie der EuGH weiter ausführt, stellt die Reinigung dieses Abwassers ein wasserrechtlich gebotenes Behandlungsverfahren vor seiner Ableitung in ein Gewässer dar, da in ein Gewässer nur unbedenkliche Stoffe eingeleitet werden dürfen. Je nach Abwasserart und Behandlungsverfahren könne der Klärschlamm Stoffe wie etwa Krankheitskeime oder Schwermetalle enthalten, die eine Gefährdung sowohl für die Umwelt als auch für die Gesundheit von Mensch und Tier darstellen können.
Bei dem Klärschlamm handle es sich um einen Rückstand aus der Abwasserbehandlung, was einen Anhaltspunkt dafür darstelle, dass die Abfalleigenschaft erhalten bleibe. Das nationale Gericht gehe aber davon aus, dass der Klärschlamm bereits vor seiner Verbrennung nicht mehr als „Abfall“ eingestuft werden kann. Dem folgt der EuGH nicht.
Sollte im vorliegenden Fall die Verbrennung des Klärschlamms in einem Verfahren der „Verwertung“ im Sinne der Richtlinie, der Verfahren im Zusammenhang mit Abfall betrifft, bestehen, wäre der Klärschlamm zum Zeitpunkt seiner Verbrennung noch als „Abfall“ einzustufen, so der EuGH. Eine Änderung der Eigenschaft in der vom steirischen Verwaltungsgericht erwähnten Form würde daher voraussetzen, dass die zur Verwertung durchgeführte Behandlung es ermöglicht, Klärschlamm zu gewinnen, der dem nach der Abfallrahmenrichtlinie gebotenen hohen Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und die Umwelt gerecht wird. Dazu müsse er insbesondere frei von jeglichen gefährlichen Stoffen sein. Zu diesem Zweck sei sicherzustellen, dass der Klärschlamm unschädlich ist, schreibt der EuGH.
Verwaltungsgericht muss Voraussetzungen prüfen
Es sei Sache des Verwaltungsgerichts, zu prüfen, ob die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie bereits vor der Verbrennung des Klärschlamms erfüllt sind. Insbesondere gelte es – gegebenenfalls auf der Grundlage einer wissenschaftlichen und technischen Analyse – zu prüfen, ob der Klärschlamm die gesetzlichen Grenzwerte für Schadstoffe einhält und ob seine Verbrennung insgesamt zu schädlichen Umwelt‑ oder Gesundheitsfolgen führt.
Im Rahmen dieser Beurteilung sind dem EuGH zufolge insbesondere die Umstände von Bedeutung, dass die bei der Verbrennung des Klärschlamms erzeugte Wärme im Rahmen eines Verfahrens zur Herstellung von Papier und Zellstoff weiterverwendet wird und dass ein solches Verfahren einen erheblichen Vorteil für die Umwelt bietet, da verwertete Materialien zur Erhaltung der natürlichen Rohstoffquellen und zur Schaffung einer Recyclingwirtschaft verwendet werden.
Sollte das Verwaltungsgericht auf der Grundlage dieser Prüfung feststellen, dass die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie vor der Verbrennung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Klärschlamms erfüllt sind, sei der Klärschlamm nicht als Abfall anzusehen. Im Fall eines gegenteiligen Ergebnisses wäre davon auszugehen, dass der Klärschlamm zum Zeitpunkt der Verbrennung noch unter den Begriff „Abfall“ fällt, heißt es in dem Urteil.