McKinsey: Covid-19 ist Bremsverstärker für die deutsche Energiewende


Zu diesem Fazit kommt die Unternehmensberatung McKinsey im neuesten Energiewende-Index, dessen Ergebnisse wenig vielversprechend sind: Zwar seien acht der 15 Ziele noch realistisch zu erreichen, drei davon stünden aber auf der Kippe. Für fünf Indikatoren sei die Zielerreichung schon länger „unrealistisch“. Bei zwei weiteren bestehe Anpassungsbedarf.


Schon vor Ausbruch der Pandemie sei die Energiewende ins Stocken geraten – etwa beim Ausbau der erneuerbaren Energien oder bei Investitionen in nachhaltige Technologien. Die Corona-Krise verstärke diese negativen Trends: Im ersten Halbjahr 2020 wurden Windkraftanlagen an Land und auf See mit einer Leistung von nur 811 MW errichtet.


„Das sind zwar 50 Prozent mehr als der historisch schwache Zubau im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres, aber nur die Hälfte des Zubaus im ersten Halbjahr 2018“, stellt McKinsey-Seniorpartner Thomas Vahlenkamp, Co-Autor des Energiewende-Index, fest. Er warnt: „Bis zu 15 Prozent aller EE-Projekte in Europa könnten durch die Corona-Pandemie verzögert oder annulliert werden.“


Auch der Corona-Einfluss an den Energiemärkten wirke sich negativ auf die Energiewende aus, denn niedrige Börsenpreise machen die Nutzung konventioneller Energien attraktiver und bremsen den Ausbau von Erneuerbaren gleich zweifach: Niedrige Rohstoff- und CO2-Preise schmälern die Investitionsanreize für Unternehmen, und niedrige Strompreise mindern die Rentabilität von Wind- und Solarparks. Das halte Projektentwickler vom Abschluss neuer Stromabnahmeverträge ab.


30 Prozent CO2-Senkung fehlen noch bis 2030


Um das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen, müsste Deutschland seine CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber dem Basisjahr 1990 reduzieren. Aus heutiger Sicht fehlten dazu weitere 30 Prozent Senkung, heißt es in dem Papier. Auf dem Höhepunkt des Lockdown Anfang April sei der tägliche CO2-Ausstoß in Deutschland nach ersten Schätzungen um rund 26 Prozent zurückgegangen. Würden die Emissionen dauerhaft auf diesem Niveau bleiben, wären die Klimaziele bis 2030 nahezu erreicht. Doch das sei unrealistisch und wäre mit einem hohen volkswirtschaftlichen Schaden verbunden, so McKinsey-Partner Ingmar Ritzenhofen. Immerhin sei die drastische CO2-Absenkung im Frühjahr nur möglich gewesen durch eine ebenso drastische Einschränkung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens.


Realistischer sei, dass im Zuge von Lockerungen und wirtschaftlicher Erholung die CO2-Einsparungen auf das gesamte Jahr gerechnet deutlich niedriger ausfallen. Die EU-weiten Einsparungen in diesem Jahr bewegten sich je nach Entwicklungsszenario zwischen 5,1 und 8,5 Prozent. In Deutschland entspreche dies einer Reduktion um 41 bis 68 Megatonnen (Mt).


Sollte sich die Konjunktur schnell erholen, könnte sich der „Corona-Effekt“ sogar komplett verlieren, so Ritzenhofen. Der Blick nach China lege dies nahe: Schon sieben Wochen nach dem schrittweisen Hochfahren der Wirtschaft kehrte die Kohleverstromung auf ihr Vorkrisenniveau zurück. Chinas Luft hatte Anfang Mai wieder die gleiche Schadstoffbelastung an Feinstaub und Schwefeldioxid wie vor Ausbruch der Pandemie.  


„Grüne Stimuli“ im Konjunkturpaket sind gut, aber noch nicht ausreichend


Die im Konjunkturpaket gesetzten „grünen Stimuli“ unterstützen nach Einschätzung von McKinsey den Klimaschutz. „Doch sie reichen nicht aus, um in allen Sektoren die Dekarbonisierung ausreichend zu beschleunigen“, stellt Ritzenhofen fest. Bislang habe hauptsächlich die Energiewirtschaft durch den Ausbau der Erneuerbaren ihren Anteil beigesteuert. Aufholbedarf gebe es im Verkehrssektor mit mehr Elektrofahrzeugen und Ladeinfrastruktur. Auch im Bereich Gebäudewärme stagniert trotz staatlicher Fördermaßnahmen die Sanierungsrate laut Deutscher Energie-Agentur bei rund 1 Prozent pro Jahr, obwohl zum Erreichen der Klimaziele mindestens 1,5 Prozent notwendig wären.


In der Industrie müssten zudem die CO2-Emissionen um 4,1 Mt pro Jahr sinken. Dies entspreche einer Reduktionsrate von 2,2 Prozent jährlich gegenüber 2019. „Die tatsächlich erforderlichen Anstrengungen liegen sogar noch höher, wenn man berücksichtigt, dass zukünftiges Wirtschaftswachstum die Emissionen weiter erhöht“, so Ritzenhofen weiter. Seit 2010 seien die Emissionen nur von 188,2 auf 187,6 Mt. gesunken.


Die Indikatoren im Überblick


Steigender Anteil der Erneuerbaren, sinkender CO2-Ausstoß: Auf den ersten Blick falle die aktuelle Energiewendebilanz recht positiv aus. Doch bei genauer Betrachtung bestehe in vielen Bereichen weiterhin deutlicher Handlungsbedarf. Fünf Indikatoren sind in ihrer Zielerreichung „stabil realistisch“: der EE-Anteil am Bruttostromverbrauch, die Gesamtenergiekosten Haushalte, der Indikator Verfügbare Kapazität für Import aus Nachbarländern sowie die Indikatoren Ausfall Stromversorgung und Industriestrompreis.


Drei momentan noch als realistisch eingestufte Indikatoren stehen laut den jüngsten Erhebungen mittelfristig auf der Kippe. Der EE-Anteil am Bruttoendenergieverbrauch lag bei 17,1 Prozent und hat damit sein aktuelles Ziel von 17,4 Prozent nahezu erfüllt. Doch ohne umfassende Elektrifizierung des Verkehrs- und Wärmesektors werde sich die Bilanz in den nächsten Jahren verschlechtern. Denn der EE-Anteil müsste doppelt so schnell ansteigen, um die geforderten 30 Prozent bis 2030 zu erreichen.


Der Indikator Sektorkopplung: Wärme misst den EE-Anteil am Wärmeverbrauch, der mit aktuell 14 Prozent auf Kurs liegt. Um die neue Zielmarke von 27 Prozent bis 2030 zu erreichen, müsste der EE-Anteil ab jetzt achtmal schneller ansteigen als im vergangenen Jahrzehnt. Und die Gesicherte Reservemarge habe sich nahezu halbiert – von 4,7 Prozent 2018 auf nunmehr 2,3 Prozent.


Der CO2e-Ausstoß verbleibe nach dem Datenstand von 2019 in der Kategorie „leichter Anpassungsbedarf“. In dieser Kategorie landet auch erstmals der Indikator Arbeitsplätze in erneuerbaren Energien in Deutschland. Die von offizieller Stelle zur Verfügung gestellten Zahlen seien aufgrund neu verfügbarer Daten für das Jahr 2018 rückwirkend nach unten korrigiert worden. Mit den jetzt gezählten 263.700 Arbeitsplätzen werde der ursprüngliche Zielwert aus dem Jahr 2009 um fast 60.000 unterschritten – Tendenz fallend.


Zielerreichung für fünf Indikatoren unrealistisch


Der Primärenergieverbrauch überschreite mit aktuell 12.832 PJ klar den Zielwert von 11.744 PJ und bleibe mit 59 Prozent Zielerreichung weiterhin unrealistisch. Der Indikator Sektorkopplung: Verkehr erreicht im ersten Halbjahr 2020 sein Ziel nur zu 19 Prozent. Von den aktuell über 760.000 geforderten E-Autos ist Deutschland fast eine halbe Million Fahrzeuge entfernt. Die Kosten für Netzeingriffe fielen 2019 deutlich von 10,8 € pro MWh aus Erneuerbaren auf 6,4 €. Dennoch sei das angestrebte Ziel von 1 € pro MWh erst zu 61 Prozent erreicht.


Der Indikator Ausbau Transportnetze wird mit nur noch 35 Prozent Zielerreichung immer unrealistischer. 3.321 km hätten bis Mitte 2020 fertiggestellt sein müssen, um auf dem Zielpfad zu bleiben – realisiert wurden gerade einmal 1.340 km. Ebenfalls unrealistisch bleibt das Ziel für den deutschen Haushaltsstrompreis. Mittlerweile liegt er fast 56 Prozent über dem europäischen Durchschnitt – fast 10 Prozentpunkte höher als bei der letzten Erhebung.