Diese Systemdienstleistung sichert – neben der Regelleistung – die Stabilität der Netze im Falle von Störungen. Wie eine Studie der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen im Auftrag der Wasserkraftbranche ergeben hat, könnten die Wasserkraftwerke in Deutschland eine Störung, zum Beispiel durch einen ungeplanten Kraftwerksausfall von bis zu 500 MW, hinsichtlich der Momentanreserve ausgleichen. Das entspricht der Leistung eines mittelgroßen Kohlekraftwerkes.
Als Momentanreserve wird die unverzögert verfügbare Leistungsreserve in einem Energieübertragungssystem bezeichnet. Sie entsteht aus der Trägheit der rotierenden Schwungmassen der Synchrongeneratoren konventioneller Kraftwerke. Kommt es in einem Stromnetz zu einem abrupten Lastwechsel, kann das Leistungsdefizit nicht unmittelbar durch Regelkraftwerksleistung ausgeglichen werden, da diese mit einer gewissen Verzögerungszeit verbunden ist.
Um Instabilitäten und Unterbrechungen zu verhindern, müsse unmittelbar nach dem Störungsfall genügend kinetische Energie aus rotierenden Schwungmassen von Kraftwerken im Versorgungssystem vorhanden sein, heißt es von Seiten des Bundesverbands Deutscher Wasserkraftwerke (BDW), der zu den Auftraggebern der Studie gehört.
Wasserkraftanlagen als Ausgleich zu volatilen Energieerzeugern
Kompensationsinstrumente sind auch erforderlich, da Windenergie- und Photovoltaikanlagen als Hauptsäulen der künftigen regenerativen Energieproduktion agieren müssen. „Diese üblicherweise leistungselektronisch angebundenen Anlagen liefern jedoch nach derzeitigem Stand der Technik noch keine Momentanreserve“, heißt es seitens des BDW. Forschungsprojekte wie „ReserveBatt“, das von der TU Clausthal federführend betreut wurde, suchen nach alternativen Möglichkeiten, den Wegfall rotierender Massen auch durch leistungselektronische Betriebsmittel zu kompensieren, etwa durch Wechselrichter in Verbindung mit Kurzzeit-Energiespeichern.
Stand jetzt sind diese Lösungen in der Breite nicht verfügbar. Wasserkraftwerke hingegen können bereits heute Momentanreserve bereitstellen. Ein Team von Professor Albert Moser, Lehrstuhlinhaber Übertragungsnetze und Energiewirtschaft am Institut für elektrische Anlagen und Netze, Digitalisierung und Energiewirtschaft (IAEW) an der RWTH Aachen, hat nun die Momentanreserve der Wasserkraftanlagen in Deutschland ermittelt und quantifiziert. Die Berechnungen basieren auf 7.988 Wasserkraftanlagen mit insgesamt 6,28 GW Nettonennleistung, die im Marktstammdatenregister der Bundesnetzagentur erfasst sind. Die Wissenschaftler ermittelten unter anderem die gespeicherte kinetische Energie der Wasserkraftanlagen, die sich aus der Trägheitskonstante und der Nennleistung der Generatoren bestimmen lässt.
10,32 GWs kinetische Energie in rotierenden Massen der Wasserkraft gespeichert
Den Berechnungen zufolge ist eine kinetische Energie von rund 10,32 Gigawattsekunden (GWs) in den rotierenden Massen der Wasserkraftanlagen in Deutschland gespeichert. Zum Vergleich: Das Braunkohlekraftwerk Weisweiler Block H weist eine kinetische Energie von 2,4 GWs auf, das Kernkraftwerk Isar/Ohu 2 kommt auf 8,88 GWs. Die bereitgestellte kinetische Energie der Wasserkraftanlagen entspreche damit der Momentanreserve eines Kernkraftwerkes.
Die Studie zeigt weiterhin, dass ein Störereignis von 462,5 MW unter Berücksichtigung der Frequenzabhängigkeit der Netzlasten allein durch die Wasserkraftanlagen hinsichtlich der Momentanreserve aufgefangen werden könnte. „Ihre vorgehaltene Momentanreserve reicht aus, um die daraus resultierende Frequenzänderungsrate und -abweichung ausreichend zu begrenzen“, heißt es. „Die deutschen Wasserkraftwerke tragen in dieser Höhe auch zur Beherrschung von größeren Leistungsdefiziten, zum Beispiel Netzauftrennungen, bei. Weitere Beiträge zur Beherrschung müssen dann aus anderen Anlagen noch bereitgestellt werden.“, fasst Martin Knechtges, wissenschaftlicher Mitarbeiter am IAEW, zusammen.
Kleine dezentrale Wasserkraftanlagen stabilisieren bayerische Stromnetze
Darüber hinaus weisen die Forscher insbesondere für Bayern darauf hin, dass in Bezug auf zukünftige Netzstrukturen und die autarke Versorgung kleiner zellularer Netze die dezentral vorhandenen Wasserkraftwerke zu einem stabilen Netzbetrieb beitragen könnten.
Die Studie zeige „einmal mehr“, dass Wasserkraftanlagen gerade vor dem Hintergrund der Abschaltung der Kernkraftwerke 2022 und anschließend der Kohlekraftwerke wichtige Systemdienstleistungen zur Netzstabilisierung erfüllten. Neben der Momentanreserve sei diesbezüglich beispielsweise auch die Schwarzstartfähigkeit zu nennen, sagt Fritz Schweiger, Vorstandsvorsitzender der Vereinigung Wasserkraftwerke in Bayern (VWB). Nach einem großflächigen Stromausfall sei die Wasserkraft mithin technisch in der Lage, den Wiederaufbau der Stromversorgung zu unterstützen.
Die bestehende Wasserkraft alleine könne die notwendige Momentanreserve im Stromversorgungssystem allerdings nicht bereitstellen. „Mit dem Ausbau der Stromerzeugung aus Wasserkraft hätte man schon heute einen effizienten Lösungsbaustein dafür“, meint Detlef Fischer, Geschäftsführer des Verbandes der Bayerischen Energie- und Wasserwirtschaft (VBEW). „Allerdings müssen auch die anderen erneuerbaren Energieträger künftig ihren Beitrag leisten.“ Jetzt seien die Ingenieure gefragt, wie dies mit moderner Leistungselektronik sichergestellt werden könne. Gerade in Bayern steht der Ausbau der Wasserkraft immer wieder in der Kritik. Im vergangenen Jahr monierte die Umweltorganisation WWF, dass knapp 57.000 Querbauwerke die bayerischen Flüsse zerschnitten, nur elf Prozent davon könnten etwa von Fischen problemlos überwunden werden.
Die Studie „Ermittlung der Momentanreserve von Wasserkraftanlagen in Deutschland“ am Institut für Elektrische Anlagen und Netze, Digitalisierung und Energiewirtschaft an der RWTH Aachen wurde im Auftrag des BDW, der Initiative „Wasserkraft Ja bitte!“ im Verband der Bayerischen Energie- und Wasserwirtschaft (VBEW) e.V. sowie der Interessengemeinschaft Wassernutzung NRW durchgeführt. Sie kann hier als PDF heruntergeladen werden.