Die Digitalisierung ist eine zentrale Zukunftsaufgabe für die Versorgungsbranche. Die Erwartungen an Effizienz- und Qualitätssteigerungen von Betriebsabläufen, höhere Transparenz oder neue Geschäftsmodelle sind hoch. Versorgungsunternehmen stehen vor der Aufgabe, sich mit den Chancen und Risiken der digitalen Transformation auseinander zu setzen und ihre Prozesse bestmöglich an ihren Anforderungen und Potenzialen auszurichten. EUWID hat mit Dr. Wolf Merkel, Vorstand Wasser des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches (DVGW), darüber gesprochen.
Herr Dr. Merkel, war der Ausbruch der Corona-Pandemie eher Hemmschuh oder Katalysator für den digitalen Wandel? Welche Entwicklungen waren hierbei speziell in der Wasserversorgung zu beobachten?
Schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie haben sich die Unternehmen der Wasserversorgung intensiv mit der Digitalisierung befasst. Denn die Branche hat erkannt, dass die digitale Transformation weit mehr ist ein technologischer Trend. Sie ist Grundlage einer Modernisierungsstrategie mit vielen Facetten, die enorme Chancen bei der Bewältigung der Zukunftsaufgaben in der Wasserversorgung bietet. So kann beispielsweise durch die Schaffung intelligenter Prozesse die Sicherheit der Versorgung erhöht werden. Durch die IT-gestützte Übernahme repetitiver Prozesse kann die Wirtschaftlichkeit verbessert werden, durch den bedarfsgerechteren Einsatz von Betriebsstoffen die Nachhaltigkeit, durch digitale Serviceprozesse der Kundenservice oder durch eine erhöhte Transparenz der Prozesse mittels verbesserter Sensorik die Qualitätsüberwachung erhöht werden.
Informationen können in Echtzeit abgerufen und immer größere Datenmengen – sogenannte Big Data – verarbeitet, versendet und bereitgestellt werden. Neue Möglichkeiten der Datenanalyse erlauben es darüber hinaus, unternehmerische Entscheidungen zunehmend IT-gestützt oder datenbasiert zu treffen. Durch die Digitalisierung und Vernetzung von Prozessen, beispielsweise im Bereich der Netzsteuerung, des Netzbetriebs oder des technischen Anlagenmanagements, können Versorgungsanlagen bestmöglich gesteuert, Effizienzpotenziale gehoben und aus Informationen Wissen generiert werden. Auch für die Versorgung mit Trinkwasser ist die Digitalisierung von zunehmender Bedeutung. Ferngesteuerte Wasserwerke, digitale Wasserzähler oder dreidimensionale Leitungsscans: In vielen Bereichen der Trinkwasserversorgung helfen digitale Anwendungen und Techniken, Arbeitsprozesse zu optimieren und die betriebliche Effizienz zu steigern.
Eindeutig hat die Corona-Pandemie als Katalysator für „Digitalisierung im operativen Betrieb“ gewirkt und das Digitalisierungstempo von Arbeitsroutinen erhöht. Vor dem Hintergrund bundesweit geltender Kontaktbeschränkungen mussten in kürzester Zeit zum Beispiel Einsatzteams zum eigenen Schutz separiert und deren Austausch über digitale Meetings und digitale Workflows sichergestellt werden. Eine logistische Herausforderung war es in vielen Unternehmen, Baustellenkoordination und -überwachung ebenso wie Wartung und Unterhalt der trinkwassertechnischen Anlagen bis hin zum Rohrnetz so zu koordinieren, dass sich Teams nicht begegneten und dennoch jeweils die komplette technische Ausstattung zur Verfügung hatten.
Dies alles hat eine spürbare Veränderung des Kommunikationsverhaltens bewirkt. Die Akzeptanz digitaler Kommunikationsmedien hat sich deutlich erhöht. Auch wir haben unmittelbar nach Beginn der Krise interne Abläufe ebenso wie die Zusammenarbeit in den Gremien auf digitale Kommunikation und mobiles Arbeiten umgestellt. Videokonferenzen sind mittlerweile fester Bestandteil unseres Alltags und werden sicher in Zukunft die eine oder andere Dienstreise ersetzen.
Welche Risiken und Herausforderungen stehen dem gegenüber?
Den positiven Effekten auf vielen Ebenen stehen eine Reihe von Hürden und Gefahren gegenüber. Der Ausbau der Digitalisierung geht in den Unternehmen mit einem hohen Investitionsbedarf einher, zum Beispiel in den Bereichen Smart Grids oder Smart Meter. Häufig ist die Konnektivität zu dezentralen Anlagen der Wasserversorger nicht vorhanden, sichere Netzwerk-Anbindungen fehlen bei entfernt gelegenen Anlagen. Hier muss der Versorger oft erst eigene Infrastruktur schaffen, zum Beispiel durch den Anschluss eigener Netzwerk-Kabel oder den Aufbau von Richtfunkstrecken. Die Implementierung neuer Technologien erfordert immer auch entsprechend qualifiziertes Personal. Noch fehlt in den Unternehmen jedoch eine ausreichende Zahl qualifizierter Fachkräfte, die über Know-how für den Aufbau der digitalen Infrastrukturen verfügen.
Mit der zunehmenden Digitalisierung wichtiger Prozesse steigt auch die Bedeutung von Instrumenten, um die kritische Infrastruktur, zu der die Wasserversorgung gehört, wirksam gegen Ausfälle und Hacker-Angriffe zu schützen. Denn die Implementierung oder Erweiterung digitaler Strukturen kann zum Einfallstor für Kriminelle werden. Ein notwendiges Maß an IT-Sicherheit muss daher mit der Digitalisierung Hand in Hand gehen. Der DVGW hat hierzu einen Branchenstandard erarbeitet, der die Unternehmen unterstützt, ihre IT-Infrastruktur nach dem Stand der Technik zu schützen. Der Standard wurde gemeinsam mit der DWA für alle Unternehmen entwickelt, die zur Erfüllung des BSI-Gesetzes verpflichtet sind. Aber auch allen anderen Wasserversorgern bietet er eine einfache Möglichkeit, die sicherheitstechnischen Schwachstellen ihrer IT-Infrastruktur zu identifizieren und geeignete Schutzmaßnahmen gegen Cyber-Angriffe zu ergreifen.
Wie bewerten Sie die im Konjunkturpaket der Bundesregierung beschlossenen Hilfen und Erleichterungen im Hinblick auf die digitale Transformation der Versorgungsbranche?
Das Konjunkturpaket der Bundesregierung ist in seiner Breite auch förderlich für die digitale Transformation in der Versorgung; ein Fokus liegt aber sicherlich nicht auf der Digitalisierung der Wasserwirtschaft. Als förderlich könnten sich die erweiterten Abschreibungsmöglichkeiten für digitale Wirtschaftsgüter sowie die Unterstützung des Auf- und Ausbaus von digitalen Plattformen erweisen.
Die Studie „Chancen und Herausforderungen der Verknüpfungen der Systeme in der Wasserwirtschaft (Wasser 4.0)“ von InfraRes im Auftrag des Umweltbundesamtes (UBA) bemängelt, dass bisherige Initiativen der Wasserwirtschaft zur Digitalisierung vordergründig auf betriebliche Vorteile und das Berichtswesen zielten. Neue Prozesse im Sinne neuer Geschäftsmodelle und der Überwindung von Sektorengrenzen blieben nach wie vor von untergeordneter praktischer Bedeutung. Auch scheine die Kooperationsbereitschaft in der Wasserwirtschaft ausbaufähig. Was ist Ihre Meinung dazu?
Ganz grundsätzlich: Man hört an verschiedenen Stellen, die Versorgungsbranche sei kein Vorreiter der Digitalisierung. Für eine Branche in der Daseinsvorsorge kann dies aber auch nicht vorrangige Priorität haben. Vielmehr kommt es darauf an, die Digitalisierung als Mittel zum Zweck für eine hohe Versorgungssicherheit in Bezug auf die Trinkwasser-Qualität und Kontinuität, für hohe Servicequalität und Kundenähe sowie für Effizienzsteigerung zu nutzen. Insofern ist es folgerichtig, dass Digitalisierung in der Wasserwirtschaft sich zunächst auf „operative Digitalisierung“ fokussiert, und die „strategische Digitalisierung“, also die „digitale Unterstützung von Services“ und die „Entwicklung von neuen digitalen Services“, nachfolgt.
Ich teile auch nicht die Ansicht, dass die Branche generell nachläuft. Sicherlich kann man immer, wie in der Studie vertreten, mehr Bewegung und Innovation fordern. Man sollte aber die erzielten Erfolge durchaus wahrnehmen. Im Rahmen der Entwicklung des „Digitalen Reifegradmodells Wasserversorgung“ zum Beispiel (DVGW-Entwicklungsvorhaben zusammen mit IWW und RWTH Aachen) haben wir hochgradig innovative Ansätze kennen gelernt, etwa aus der prädiktiven Instandhaltung, dem Lastgangmanagement, der digitalen Überwachung von Pegelständen, digitalen Kundenzählerauslesung und viele weitere.
In der UBA-Studie wird stark auf den „Nutzen für Umwelt und Bürger“ abgehoben. Mir ist wichtig, die Rolle der Wasserversorger von den Aufgaben der staatlichen Umweltverwaltung oder sondergesetzlichen Verbänden abzugrenzen. Wenn es also zum Beispiel um integrale Überwachung von Grundwasserleitern oder vorsorgendes Hochwassermanagement geht, sind sicherlich nicht zuerst die Unternehmen gefragt. Dennoch sehe ich ein hohes Potenzial in einer sektorübergreifenden Verwendung: Gibt es ein digitales Grundwassermodell in Echtzeit, sollten über digitale Plattformen alle Nutzer und Stakeholder darauf zugreifen können, mit Berechtigungen entsprechend ihrer jeweiligen Rolle. Das gilt auch für die Stärkung der Bürgerinformation und -einbindung in Beteiligungsprozessen. Hier sind die Potenziale einer transparenten Information zur Stärkung von Verständnis und Akzeptanz wasserwirtschaftlichen Handelns groß und noch lange nicht ausgeschöpft.
Um noch einen Punkt aus der Studie aufzugreifen: die Beförderung der Wasserwiederverwendung ist für mich kein Digitalisierungsthema, sondern zu allererst eine Frage einer vorausschauenden Gefährdungsbewertung für Mensch und Umwelt. Und erst wenn ein robustes Risikomanagementsystem aufgesetzt ist, können Sensorik, Prognosemodelle und Künstliche Intelligenz allenfalls unterstützen.
Bezüglich „neuer Geschäftsmodelle“ habe ich eine persönliche Meinung: Die erstrangige Rolle der Wasserwirtschaft liegt in der Daseinsvorsorge. Ver- und Entsorger sollten auch in der Digitalisierung alles dafür tun, dass zwischen ihnen und ihren Kunden keine digitale Lücke entsteht. Aber die digitale Zweitverwertung von Kundendaten ist allenfalls eine nachrangige Aufgabe unserer kommunalen Wasserwirtschaft.
Wie will der DVGW den digitalen Wandel gestalten und welche Hilfestellung bietet er seinen Mitgliedern?
Der DVGW sieht seine Aufgabe vor allem in zwei Dimensionen: An erster Stelle steht für uns die Erhöhung der Investitionssicherheit für die Unternehmen. Dies wollen wir erreichen mit der Bereitstellung von Best Practice ebenso wie durch Werkzeuge zur Bewertung und zur Unterstützung der Implementierung digitaler Lösungen und in der begleitenden Regelsetzung. Das bereits erwähnte Reifegradmodell Wasserversorgung 4.0 leistet hier einen wichtigen Beitrag. Es versetzt die Unternehmen in die Lage, ihren digitalen Entwicklungspfad systematisch zu analysieren und ihren Entwicklungsstand im Hinblick auf verschiedene Gestaltungsfelder einzuordnen. Dazu gehört ein Selbst-Check-Tool, mit dem die Wasserversorgungsunternehmen das Reifegradmodell konkret auf ihre jeweiligen Betriebsabläufe anwenden können.
An zweiter Stelle steht das Befördern von Innovationen durch eigene Forschung, den Anschub von Pilotprojekten und die Beteiligung an Forschungsvorhaben. Aktuell arbeiten wir an Projekten zum Beispiel zur Überwachung der Wasserqualität (Stichwort: Trink-Ident) und zur Frühwarnung vor hygienischen Belastungen mit. Weit oben auf der Agenda stehen auch Innovationen in der Koppelung von Daten der Fernerkundung mit wasserwirtschaftlichen Prognosemodellen oder auch zerstörungsfreie Inspektionssysteme.
Es gilt in diesem Zusammenhang, Innovationshemmnisse an anderen Stellen zu beseitigen. Dringend notwendig sind etwa die Regelung des Rechtsrahmens für den Einsatz von digitalen Funkwasserzählern - erste Ländervereinbarungen in Hessen und Rheinland-Pfalz mit Datenschutzbehörden laufen gerade - oder die Harmonisierung der Schnittstellen von Datenpools verschiedener wasserwirtschaftlicher Akteure. Wenn regulatorische und technische Hürden zügig beseitigt werden, wird die Digitalisierung in der Wasserversorgung schnell noch weiter an Boden gewinnen.